Die drei Heilerziehungspfleger*innen haben sich durch ihre Ausbildung in Berlin kennengelernt und arbeiten seitdem in verschiedenen Kontexten in der Behindertenhilfe. Wir bedanken und herzlich für das Interview.
M: Mark, 30, aus Berlin. Ich bin seit 10 Jahren in der Behindertenhilfe unterwegs, angefangen mit dem FSJ und habe dann die Ausbildung zum Heilerziehungspfleger gemacht und da größtenteils Pflegeassistenzjobs übernommen. Hier und da auch Urlaubsreisen für Menschen mit Behinderungen begleitet und im Rahmen der Assistenz bin ich mit meiner Klientin mehrmals auf Urlaubsreisen gewesen.
F: Fabian, auch 30, ich habe eine Ausbildung zum Heilerziehungspfleger gemacht und hatte vorher nicht so viel mit dem Thema zu tun. Anschließend habe ich im ambulanten Wohnen gearbeitet, ausschließlich mit geistig behinderten Menschen. Ich habe auch mehrere Ferienfahrten innerhalb Deutschlands gemacht und auch von Reiseplänen mitbekommen, die Leute umsetzen wollten. Ich habe zum Beispiel auch mal mit zwei verschiedenen Klienten versucht eine Reise zu planen, einfach nur theoretisch. Ohne dass es jetzt darum geht, dass man die umsetzt. Aber einfach mal guckt, was braucht man dafür überhaupt?
P: Pia, 29, ich habe 2013 mit einer Erzieherinnenausbildung angefangen, habe die drei, vier Jahre gemacht und währenddessen angefangen in der Einzelfallhilfe für eine 14-Jährige mit Trisomie21 zu arbeiten. Dann habe ich mit meiner Heilerziehungspflegerinnenausbildung angefangen und später im betreuten Einzelwohnen gearbeitet. In dieser Zeit habe ich drei Wochen lang eine Reise mit Menschen, die körperlich und geistig und psychisch behindert sind, betreut, in den Harz, und habe im Laufe meiner Beschäftigung im betreuten Einzelwohnen drei Jahre lang zwei Gruppenreisen innerhalb Brandenburgs mit betreut.
Sie haben also alle mindestens eine Reise unternommen oder waren mit Menschen mit Behinderungen unterwegs. Wie war das, wo waren Sie, was haben Sie gemacht?
F: Da gibt’s verschiedene Perspektiven. Soll ich anfangen?
M: Wie du magst.
F: Ich fang mal an. Wenn irgendwelche Fahrten anstehen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder du gestaltest es selber als Projekt und sagst „Ok, wir haben so und so viel Kontingent vom Träger und können damit eine Reise machen, mit den Leuten zusammen“. Da kannst du dich wirklich in der Betreuungssituation mit den Leuten hinsetzen und die planen. Oder es gibt halt so vorgefertigte Reisestrukturen, zwei Wochen betreut nach Griechenland, Athen, was auch immer. Sowas ist aber meistens übelst teuer.
Die Reisen an sich waren insoweit immer recht stressig für mich als Betreuungsperson, weil du eigentlich nie Pause hast. Du hast nicht diese 8 Stunden Arbeit oder 10 Stunden, die dir bezahlt werden, weil die werden dann maximal bezahlt. Und alles darüber hinaus ist dann sozusagen Freizeit, Pause. Die Pause gibt’s aber nicht. Du bist halt, wenn du zwei Wochen mit den Leuten da bist, zwei Wochen 24 Stunden mit den Leuten da. Also vielleicht ein, zwei Mal kannst du dich so ein bisschen rausnehmen, für ein, zwei Stunden. Und es war aber letztendlich dadurch, dass wir nur auf irgendwelchen Campingplätzen waren, eigentlich ein ganz entspannter Urlaub, wie man es auch kennt in einer Gruppe. Ich bin nicht mit fremden Leuten in Kontakt gekommen.
M: Das ist dann halt schon immer sehr vorstrukturiert.
F: Du wurdest schon so eingeengt, nicht aus Deutschland raus, weil nicht genug Geld da ist. Was ich beobachten konnte ist, dass wenn eine Sache gut war, wird sie jedes Jahr wiederholt. Das war so dieses: Ja okay, das eine Jahr auf den Campingplatz nach Nordrhein-Westfalen, dann wird das zehn Jahre hintereinander gemacht, ohne dass jemand auf die Idee kommen könnte das vielleicht mal anders zu machen.
M: Und auf die Wünsche von den einzelnen Leuten eingehen.
F: Es war eigentlich immer ganz stark vom Betreuungspersonal abhängig, inwiefern du dem Menschen bewusst machst, wie viel Wahl er selber hat. Also da liegt es an mir dem Menschen zu vermitteln, dass wir eben nicht das zehnte Jahr hintereinander auf einen Campingplatz fahren müssen, sondern wir können auch mal der Gruppe vorschlagen, das und das zu machen. Und da muss man meiner Ansicht nach mal ein bisschen die Initiative in die Hand nehmen. Den Leuten die Wahl lassen, und den Leuten überhaupt erstmal eine andere Vorstellung ermöglichen.
P: Was da auch helfen könnte ist, dass Verantwortungen innerhalb des Teams wechseln. Dass nicht jedes Jahr die gleiche Suppe aufgekocht wird
F: Mark, vielleicht kannst du von deinen Erfahrungen in der Begleitung von einer Einzelperson, also in der persönlichen Assistenz erzählen?
M: Ja, also für ein oder zwei Wochen habe ich, bzw. haben wir zu zweit, zwei Assistenzen, irgendwo am Meer, ich glaube an der Ostsee, unsere Klientin begleitet und das war eigentlich zwei Wochen lang Arbeit. 24 Stunden wurden auch bezahlt, quasi vom Amt.
P: Über das persönliche Budget?
M: Ja, genau, über das persönliche Budget. Und ja das hat sich auch ähnlich angefühlt, nämlich dass man wenig Freizeit hat, weil man sich zu zweit die komplette Pflege für eine Person geteilt hat. Und das ist dann schon auch sehr innig und eng und wird dadurch auch schnell konfliktgeladen.
Da spielt die direkte körperliche Abhängigkeit von der assistenzgebenden Person rein, wenn die Klientin dann vielleicht manchmal auch keinen Bock hat, irgendwen um sich rum zu haben, aber halt dann muss. Und ich bin auch sehr oft auch auf emotionale Konflikte innerhalb der Person gestoßen. Dann kamen noch die Emotionen von mit als Assistenten hier und da durch – weil du das auch nicht komplett trennen kannst – ja, da gab es hin und wieder schwierige Situationen.
Wenn du zwei Wochen lang unterwegs warst – wenn man jetzt mal ganz simpel rechnet – hast du zwölf Stunden Arbeit am Tag, zwei Wochen lang. Sind es tatsächlich zwölf Stunden?
M: Das war eher aufgeteilt in mal so zwei oder drei Stunden Grundpflegebegleitung morgens, und dann halt mittags und abends, da hat man sich halt abgewechselt. Und ansonsten wars halt auch mal, zwei Stunden am Strand ihren Rollstuhl schieben und selbst Urlaub machen und rumsitzen und Kaffee trinken.
F: Aber trotzdem kannst du als Assistenz kopfmäßig nie in diesen Urlaubsmodus kommen.
M: Ja also man hatte schon mal drei Stunden frei, wo man sich auch mal zurückziehen und seinen Kram machen konnte, aber man war auf Abruf. Also wenn die Klientin einen Toilettengang gebraucht hat, ja, war man schon immer am Start.
F: Und du musst ja auch immer am Start sein.
M: Naja wir waren ja zwei Leute, jetzt bei der Reise.
F: Ach ja stimmt.
M: Stell noch eine Frage (lacht).
Ja, ich habe eine Frage, aber an Pia. Muss man bei einer Gruppenreise immer am Start sein?
P: Ja. Du sagst schon ja zu einer Arbeit, die halt eben nicht im Schichtdienst ist und nicht mit festen Zeiten imitiert werden kann. Wenn du auf eine Fahrt fährst, stimmst du schon dem Kleingedruckten zu, dass du schon immer auf Abruf bist.
Wie funktioniert denn die Organisation von so einer Gruppenreise?
M: Also ein Verein, mit dem ich schon zwei Gruppenreisen für Erwachsene geplant habe, bietet auch Gruppenreisen in verschiedenen Altersgruppen an. Da gibt es so ab acht, neun los.
F: Machen die das dann so als offenes Angebot, oder läuft das unter ihrem Träger?
M: Ne, das ist eine von dem Verein geplante Reise, die engagieren halt Leute, die jeweils begleiten, und machen das Organisatorische. Und die Reiseplanung geht dann auf die Begleitpersonen. Da gibt’s dann eine Reiseleitung, die alles koordiniert und Aufgaben verteilt und guckt, dass man im Vorhinein den Urlaub so ein bisschen plant. Und die Leute, die Reisenden, vorher einmal besucht, um sie kennenzulernen und anhand der Interessen möglichst den Urlaub so gestaltet, dass alle auf ihre Kosten kommen.
I: Habt ihr auch schon schlechte Erfahrungen gemacht?
M: Ich habe schlechte Erfahrungen mit Kolleg*innen gemacht, die den Urlaub und die Aktivitäten schon sehr bevormundend gestaltet haben. Beispiel: Da war eine Fußball-WM zu der Zeit und da hatten zwei Reisende Lust zuzugucken, dem Rest war das nicht wichtig. Und dann war der Druck die ganze Zeit da, Spiele mitzunehmen. Aber halt eher von den Betreuern als von den Reisenden – und jetzt so im Nachhinein betrachtet (damals hatte ich noch nicht so viel Erfahrung), ist es halt schon ihre Reise… Aber Bestimmung macht halt den Rahmen. (schaut zu Fabian) Das ist ja bei deinem auch bisschen so gewesen.
F: Ja, weil eigentlich geht es ja darum: Was haben Leute für Möglichkeiten? Und was gibt es für Möglichkeiten als Außenstehender sowas zu begleiten? Und du sagst zum Beispiel du hast auch Leute, die nicht gelernt sind in dem Beruf. Dann ist das ja trotzdem für Leute, die Bock haben sowas zu machen, eine gute Möglichkeit.
M: Wenn eine Reise zwei Wochen dauert, habe ich die Erfahrung gemacht, dass gerade ungelernte Leute in so einer Reisebegleitung an ihre Grenzen gekommen sind. Eben auch wegen dieser 24 Stunden Bereitschaft.
Aber es muss niemals so hart arbeitslastig sein, wie es bei manchen unorganisierten Trägern ist. Das war so mein Go-To-Punkt. Wenn die Organisation gut ist, dann kann man auch Hilfskräfte und Quereinsteiger*innen mit reinnehmen. Was das ganze ja auch noch erfrischt. Weil ich finde du brauchst meistens nicht zu 100 Prozent ausgebildetes Fachpersonal, um eine pädagogisch wertvolle Reise an Start zu bringen.
F: Exakt.
M: Ich habe auch sehr gute Erfahrung mit ungelerntem Personal gemacht. Also mit Leuten, die damit wenig Berührungspunkte hatten. Und aber einfach einen super emphatischen Job gemacht haben, so intuitiv einfach. Und auch offen waren für Hilfen und sonstwas. Und das ist dann eher so eine Charakterfrage oder eine Einstellung zu der Sache.
Was ist noch wichtig für die Organisation im Team?
P: Ich glaub wichtig dabei ist wirklich das Leitbild: Das heißt wie gehen wir mit allgemeinen oder gewissen, konkreten Dingen um? Wie ist eigentlich meine Rolle? Was möchte ich eigentlich gerade für einen pädagogischen Auftrag erfüllen? Solche Leitbilder, die entweder von dem Träger oder von dem Verein, der diese Reise durchführt, festgesetzt werden; oder das Team selber, das sich dann spontan findet, muss sich bei gewissen Dingen einig sein. Zum Beispiel: Was habe ich eigentlich für einen pädagogischen Auftrag? Muss ich jetzt zum Beispiel Elke beim Frühstückstisch beibringen, wie man Messer richtig hält?
F: Oder, dass sie nur einen Kaffee trinken darf.
P: Oder, dass sie nur einen Kaffee trinken darf. Oder habe ich mich im Endeffekt im Vorhinein mit meinem Team abgestimmt: Was sind Leitbilder? Wo sind eventuelle Vorkrankheiten, wer hat Diabetes, wer neigt dazu, den Kühlschrank nachts leer zu räumen? Und dann aber auch ganz klar festzulegen, wo grenze ich Selbstbestimmung ein. Und das ist einfach ein ganz, ganz großer Punkt. Und ich glaube wenn das im Team geklärt ist, hat das einen erheblichen Einfluss auf die Reise und wie es wahrgenommen wird. Und das finde ich nämlich ganz wichtig und darauf würde ich pochen als Mensch, wie ich eine Reise angehen möchte, oder als Begleitende. Bist du jetzt hier dabei, um Leuten irgendein Ziel beizubringen oder einfach nur eine schöne Zeit zu haben und währenddessen einfach nur einen lockeren Rahmen zu geben.
Wie weiß ich als begleitende Person denn, was mein pädagogischer Auftrag ist?
P: Als begleitende Person in einem Reisekontext finde ich es unglaublich wichtig, mit den Menschen, die ich vor mir habe, Ziele zu vereinbaren. Ich habe eine Bindung zu dem, eine Beziehung, und ich setze mit dem Ziele oder auch Grenzen. Ansagen, klare Grenzen und klare Linien können besser verfolgt werden als schwammige Linien. Und das muss nicht alles durchgeplant sein, aber einfach: Das sind meine Grenzen, das sind deine Grenzen. Was haben wir uns hier als Ziel gesetzt? Irgendwie sowas. Um einen Rahmen festzusetzen, einen Rahmen, in dem wir uns bewegen können. Das finde ich sehr, sehr wichtig. Genau das gleiche geht ans Team: Einen Rahmen, ein Spielfeld festzulegen, mit dem ich weiß, wo ich mich bewegen kann. Das ist für alle Beteiligten einfacher.
Und wir hatten in dem betreuten Einzelwohnen, in dem ich gearbeitet habe, jeden Monat eine Klientelversammlung, in der alle Bewohner*innen oder Kundschaften des betreuten Einzelwohnens zusammenkommen konnten und über genau solche Sachen abstimmen konnten: Was möchte ich von der nächsten Reise haben? Da wurde ein Protokoll rausgegeben und alles sehr transparent gemacht. Das fand ich sehr sehr gut.
Das ist glaube ich mein Abschlusssatz: Egal mit welchem Klientel, egal mit welchem Alter, Herkunft oder sogar laut Sozialgesetzbuchartikel: Du kannst von Menschen nicht erwarten, dass sie Verantwortung übernehmen, wenn du sie ihnen nicht gibst. Du gibst dem Klientel eine kleine Art von Verantwortung und dann können sie diese Reise mitbestimmen und das ist das wichtigste. Punkt.
F: Ich finde noch zwei Sachen wichtig. Einmal ist es auch immer eine Kostenfrage. Wenn du gewisse Sozialleistungen beziehst – jetzt aus der Perspektive von Klienten und Klientinnen – darfst du nur einen gewissen Betrag ansparen. Das heißt es gibt für gewisse Leistungsbezieher gar nicht die Möglichkeit bestimmte Reisen anzutreten, weil sie gar nicht so viel ansparen dürfen, um sich das überhaupt leisten zu können. Das ist ein Problem.
M: Ja.
P: Ja.
F: Das heißt du bist von Grund auf nicht dazu in der Lage, eine eigene Reise zu finanzieren. Und der zweite Punkt, der auch daran anschließt, was ich am wichtigsten finde, ist, dass oftmals der Zugriff zu den eigenen Rechten über die Assistenz passieren kann – hoffentlich – wenn die ihren Job macht. Also das heißt meinem Klientel kann ich seine Rechte vermitteln, indem ich das gut übersetze.
Wie eine Reise wird, liegt glaube ich ganz stark an der Hilfestruktur insgesamt und wie sehr sich Leute um dich rum engagieren, um dir das bestmögliche Paket zusammenzuschustern. Aus meiner Erfahrung hat die Assistenz da ganz viel Einfluss darauf, wie geil die Reise für den Menschen werden kann. Weil die Assistenz auch das umsetzen kann, was der Mensch in dem Moment wünscht, am besten mit der Hilfe des Menschen selbst. Und wenn du da einen scheiß Job machst, dich aber hinstellst und sagst „Ja Hauptsache wir machen jetzt irgendwohin“…
M: “Hauptsache ich habe schnell Feierabend.“
F: Genau, dann ist halt der Wunsch nicht erfüllt. Die Barriere wird noch größer, diesen zu gestalten. Die Frage, worum es geht – und die wir uns immer wieder stellen sollten – ist: Was kannst du tun, damit die Reise für die Menschen geil wird? Das ist ja die Frage, um die es geht.
* Das FSJ ist eine Möglichkeit, in der Bundesrepublik Deutschland ein Jahr lang für wenig Geld einen Freiwilligendienst zu absolvieren und dabei etwas zu lernen und sich beruflich zu orientieren.